Der Nachfolger des Lückenfüllers „genau“ ist sein dreisilbiger Kumpel „tatsächlich“. Aktuell breitet er sich schneller aus als Kopfläuse in einem Kindergarten.
Im FAZ-Artikel Tatsächlich schlimm (11.09.2024) lässt sich der Autor Uwe Marx über die „unerklärliche Tatsächlich-Manie“ aus. Ständig sei es „tatsächlich so“, dass dieses oder jenes passiert ist, „tatsächlich auffällig“, was dieser oder jener gesagt hat, „tatsächlich besser“, diesen und keinen anderen Weg im Arbeitsprozess einzuschlagen.
Diese „papageienhafte Tatsächlich-Dauerschleife“, so Marx, sei nicht nur nervig. Es sei auch kein Kraut gegen sie gewachsen. Das Gegenüber zurechtweisen? „Geht natürlich nicht, das ist unhöflich, klingt nach Besserwisserei und oberlehrerhafter Empfindlichkeit.“ Außerdem solle es immer um die Sache gehen, wie jemand rede, sei nebensächlich.
Dagegen spricht allerdings, dass der „Tatsächlich-Tsumami“ selbstverständlich einen Inhalt transportiert. Nämlich die implizite Wahrheitsbehauptung, dass das Gesagte „tatsächlich“ so ist, also der Wirklichkeit entspricht.
Ein Traktat über das Tatsächliche
Dass die Wahrheit ein Abbild des Tatsächlichen sei, lernen brave Philosophieschüler schon in in der Einführung in den logischen Positivismus. Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1918), ein Buch, das der junge Philosoph teilweise in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges verfasste, kann als Lobgesang auf das Tatsächliche gelesen werden.
„Die Welt ist all das, was der Fall ist“, schreibt Wittgenstein, „also die Gesamtheit der Tatsachen. Tatsachen bestehen aus Sachverhalten. Diese wiederum sind Verbindungen von Gegenständen. Nicht die Gegenstände an sich, sondern ihre Verbindungen untereinander machen die Welt aus.“
Unsere Gedanken sind Bilder von Tatsachen. Sie stimmen entweder mit der Wirklichkeit überein – dann sind sie wahr –, oder sie stimmen nicht mit ihr überein – dann sind sie falsch. Die einzig wahren Aussagen sind nach Wittgenstein diejenigen der Naturwissenschaft, die sich empirisch überprüfen lassen.
Die heimliche Inhaltsleere des Tatsächlichen
Wittgensteins Theorie blieb der Traum eines Alleserklärers. Ein Jahrhundert später hat die Wissenschaftstheorie klar gestellt, dass es mit der vermeintlichen Objektivität der Naturwissenschaft nicht so weit her ist.
So basiert das empirische Datenmaterial seinerseits auf hochkomplexen, Vorwissen aktivierenden Vermittlungsprozessen. Erfahrung und Beobachtung, sagt der Wissenschaftsforscher Olaf Breidbach in Der Analogieschluß in den Naturwissenschaften oder Die Fiktion des Realen (1987), stellen nicht die Tatsachen dar, sondern sind Projektionen wissenschaftsimmanenter Strukturen und Regeln.
Mit der Entlarvung des Tatsächlichen als Konstruktion versinken die vermeintlich harten Fakten unversehens im Sumpf der Annahmen und Hypothesen. Unsere Ehrfurcht vor den nackten Tatsachen erweist sich als unbegründet.
Mut zur Lücke
Wenn das Tatsächliche nur eine luftige Fiktion ist, sollten wir besser darauf verzichten, mit dem Füllwort „tatsächlich“ unentwegt die vorgebliche Stichhaltigkeit unserer Aussagen zu beschwören.
Ehrlicher wäre, die Lücke nicht zu füllen und die epistemologische Ungewissheit für ein, zwei Sekunden auszuhalten.